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Das Motto des Schreibwettbewerbs der Literarischen Lese in Freinsheim (Pfalz) in 2022 lautete ‚Kindheiten‘. Am 13. Mai 2022 habe ich dort meinen Text vorgestellt.

Kindheiten

Vielleicht haben wir alle mehrere Kindheiten, gleichzeitig.

Wir haben unsere Kindheiten in den dunklen Wohnzimmern der 50er, 60er, 70er, 80er Jahre. Die Sofas sind aus Cord oder Leder oder einem rauen hellgrauen Stoff, die Fernseher sind klein oder groß, da sitzen wir davor und es war vor ein paar Jahren noch Krieg, wir sehen es am Schutt und den eingefallenen Mauern der Nachbarhäuser, oder es ist der Kalte Krieg und die Mauer noch nicht gefallen. Es sind Kindheiten des Noch-Nicht. Wir sitzen in diesen Refugien, vielleicht gibt es bald ein Eis in der Sonne oder Schnee, alles passt zu Sommer oder Winter, allein der April macht in diesen Kindheiten, was er will.

Und wir haben die Kindheiten in den hellen sonnengebleichten Feldern da draußen, in der Pfalz oder vielleicht anderswo, wir sind klein, wir wissen noch nicht viel vom Anderswo, Tschernobyl ist noch nicht explodiert, der Golfkrieg beginnt vielleicht bald. Wir spielen auf der Straße, der Eiswagen fährt vor und wir müssen uns entscheiden, Schlumpfeis oder Erdbeere und Zitrone, und vielleicht geht man noch baden oder stromert zu den Nachbarn, spielt dort Murmeln oder Lego, man weiß es noch nicht, als Kind entscheidet man nichts, vielleicht darf man es nicht, und hat die Freiheit, sich dem Tag anzuvertrauen, Tschernobyl ist noch nicht explodiert. Vielleicht lesen wir nachts noch unter der Bettdecke, Die Schatzinsel, Winnetou, Die unendliche Geschichte oder den neuesten Spielzeugkatalog.

Vielleicht haben wir alle mehrere Kindheiten, unzählige. Vielleicht ist in uns auch die Kindheit unserer Eltern, Tanten, Onkel, Großeltern und deren Eltern. Vielleicht trage ich in mir auch die Kindheit meines Onkels, der 1 Jahr lang ein- und denselben Kaugummi kaut, den ihm ein US-amerikanischer Soldat geschenkt hat. Vielleicht bin ich es, die immer wieder in die Küche geht und Zucker stibitzt, um ihn wieder wenigstens ein bisschen schmackhaft zu machen. Wir alle sind stibitzende, linsende, lauschende, laute, leise, freche, ungezogene, gehorsame Kinder, wir sind es früher gewesen und heute noch.

Man tadelt und lobt uns, in den Kindergärten und Schulen, in den dunklen Wohnzimmern des Hier und Anderswo, wir schämen uns, für das, was wir sind, aber wir haben die Macht, zu stibitzen und zu linsen und zu lauschen, die Erwachsenen ahnen nicht, was wir alles können und erfahren haben, wir bewegen uns behutsam im Vielleicht und wissen bereits um Wahrscheinlichkeiten, die Zufälle und Schicksalsschläge, die kommen werden.

Sicher tragen wir mehrere Kindheiten in uns. Manchmal zählen wir sie, manchmal denken wir, es sei nur eine. Wir entwachsen den abgedunkelten Wohnzimmern, den Raps- und Maisfeldern, wir kaufen uns Kaugummi, wenn wir Lust darauf haben, manchmal schämen wir uns noch für das, was wir sind, manchmal sind wir vielleicht nicht demütig genug.

Wir sind die Kinder in uns, und so geht es weiter, bis wir uns abends schlafen legen und sagen, nur noch eine Geschichte, bitte.